Foto: Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde Weimar
Der Beginn von Vulpius' Magnificat von 1605.
Vor 400 Jahren starb mit Melchior Vulpius ein Komponist, der sich Zeit seines Lebens der kantablen Liturgie verschrieb. Einige seiner Kirchenliedmelodien sind bis heute im Gottesdienst präsent. In die Hunderte geht sein Werk an Evangelienmotetten und Kantionalsätzen. Dabei ist das Gros seiner Kompositionen noch zu entdecken.
Vulpius? Thüringen? Weimar? Na klar, dürfte die Standardantwort laufen, dabei könne sich ja nur um Christiane Vulpius handeln. Die Tochter des Amtsarchivars Johann Friedrich Vulpius, in den letzten zwei Jahrzehnten durch mehrere Buchveröffentlichungen als Person mit eigener Identität wahrgenommen, war von 1806 bis zu ihrem Todesjahr 1816 Goethes Ehefrau. Ihr Bruder Christian August Vulpius, zu seiner Zeit als Autor des Räuberromans Rinaldo Rinaldini, populär, ist heute weitgehend vergessen. Derselbe Name in Geschichte und Wirkungsgeschichte protestantischer Kirchenmusik? Mit Melchior Vulpius gibt es ihn in der Tat.
Auch wenn der nur wenigen wirklich ein Begriff sein dürfte, ist seine Bedeutung unstreitig. Johannes Kleinjung (39), Kantor an der Evangelischen Stadtkirche St. Peter und Paul (Herderkirche) in Weimar, nennt ihn "einen unglaublich geschickten und hoch talentierten Komponisten von Motetten in der kirchenmusikalischen Tradition des Frühbarocks". In diesen Tagen besteht Anlass, sich der Rolle von Melchior Vulpius bei der Etablierung und Ausprägung von liturgischer Musik für den protestantischen Gottesdienst zu vergewissern. Vor 400 Jahren, am 7. August 1615, ist der Kantor und Kirchenkomponist in Weimar gestorben, erst 45 Jahre alt.
Vulpius wächst in den bescheidenen Verhältnissen einer Handwerkerfamilie auf. Er hat nach dem Schulbesuch das Glück, von dem Komponisten Johannes Steuerlein, Verfasser evangelischer Kirchenlieder (Mit Lieb‘ bin ich umfangen), in Meiningen unterrichtet zu werden. 1596 wird er zum Stadtkantor in Weimar berufen, seine erste herausgehobene und, wie sich zeigen soll, letzte Stelle. Will man das Leben von Vulpius auf einen Nenner bringen, so bietet sich die Formel eines unermüdlichen Einsatzes für den evangelischen Gottesdienst und eine Kirchenmusik an, die von den Gläubigen als sangbar, als kantabel empfunden wird. "Vulpius", beschreibt Kleinjung das bleibende Verdienst des Weimarer Komponisten, "schuf Jahrzehnte vor Schütz und Bach und ihrem Stil polyphone deutsche Evangelienmotetten und homophone Choralsätze, die auch von Laienchören ohne erhöhten Aufwand erlernt und gesungen werden können." Solche Kantionalsätze habe Vulpius in der Regel zu Kirchenliedern geschaffen, die aus dem Lutherischen Repertoire stammten.
Seine Nähe zum Gottesdienst und seine Empathie für dessen Besucher bezeugen auch eigene Kirchenliedmelodien, die Vulpius in seinen Chorälen verwendet und die daraus für die Liturgie abgeleitet werden. Sie zählen bis heute zur Praxis des Kirchengesangs. Gelobt sei Gott im höchsten Thron, Die helle Sonn und Christus, der ist mein Leben, Ach, bleib mit deiner Gnade und andere Lieder wie gehören zu den gebräuchlichsten Melodien dieser Art, im protestantischen wie übrigens auch im katholischen Gottesdienst. 35 solcher Kirchenliedmelodien, annähernd 400 Kantionalsätze und 200 Werke im Motettenstil werden dem Weimarer Komponisten nach einschlägigen Quellen zugeschrieben. Registriert und erhalten ist auch ein Unikat, Das Leiden und Sterben Unsers Herrn Erlösers Jesu Christi auß dem heiligen Evangelisten Matthäo 1613, eine Matthäus-Passion im monochromen Stil von Vulpius, komponiert mehr als ein Jahrhundert vor der berühmten Passion Bachs von 1727.
Das, wie es auf den ersten Blick scheint, imposante Oeuvre dürfte aber bei weitem nicht die kompositorische Lebensbilanz des Weimarer Stadtkantors sein. "Absolut", antwortet Kleinjung auf die Frage, ob Vulpius ein Phänomen sei, bei dem es noch viel zu entdecken gebe. Ein Großteil seines Werks sei noch nicht "ediert". "Man muss", erläutert er den Hintergrund, "die Kompositionen, die in modernen Ausgaben ediert sind, von denen unterscheiden, die lediglich in Handschriften oder zeitgenössischen Drucken erhalten sind."
Umso wertvoller erscheint das Archiv der Stadtkirche St. Peter und Paul zu Weimar, in dem Chorbücher aus den Anfängen der 16. Jahrhunderts sicher verwahrt werden. Es bietet fundierte Begegnungen mit den Wurzeln der Kirchenmusik in einer Kernregion des Protestantismus in Mitteldeutschland, dem Weimarer Land und der Stadt Weimar. "Sie", heißt es zum Stellenwert der Chorbücher auf der Webseite des Kirchenkreises, "zählen zu den ältesten Dokumenten mehrstimmiger liturgischer Musik protestantischer Prägung überhaupt." Die namhafte Liste an Komponisten, die in der Stadtkirche musiziert und gewirkt haben, reicht von Johann Gottfried Walther bis zu Johann Sebastian Bach und Johann Gottlob Töpfer. "Auch Felix Mendelssohn Bartholdy und Franz Liszt musizierten hier", ist vermerkt. Wer sich speziell um Vulpius bemühen will, gleichsam musikarchäologisch, muss sich in der ganzen Region umsehen. Seine Werke sind in Kantoreiarchiven in ganz Thüringen zu entdecken.
Es ist noch viel zu entdecken in Vulpius' Werk
Für Kleinjung, der aus München nach Weimar kam und dort 2010 für kirchenmusikalische Aufführungen in der Herderkirche das Ensemble Hofmusik Weimar gründete, ist das Thüringische Landesmusikarchiv eine exzellente Quelle. "Vulpius hat etliche groß angelegte Fassungen, beispielsweise des Magnificat, geschaffen. Für bestimmte Aufführungen ist es dann leicht, sich unter den erhaltenen Handschriften oder Drucken umzusehen und das rauszusuchen, was sich zu einem bestimmten Anlass eignet."
Vulpius, so kurios dies anmuten mag, hat eine, seine Zukunft vielleicht noch vor sich. Die Resonanz seiner Werke, erklärt Kleinjung, sei auf die evangelischen Kantoreien begrenzt. Was öffentlich breiter wahrgenommen wird, sei zumeist konzertante Kirchenmusik, häufig in Verbindung mit großen Namen wie Bach oder Mendelssohn. Ein Gedenkkonzert für Vulpius im Juni in der Herderkirche habe man daher auch mit Werken verbunden, die nicht von ihm stammten, sondern von berühmteren Zeitgenossen. Nun gut, an dem emsigen Weimarer Komponisten ist noch vieles zu entdecken. Und die Trends und Moden auch in der Kirchenmusik wechseln. So hat der so puristische Gregorianische Choral in den letzten Jahrzehnten eine Renaissance erlebt, auch außerhalb des kirchlichen Raumes. Vieles bleibt zu tun. Eine Melchior-Vulpius-Gesellschaft, inspiriert von passionierten Experten und Laien, harrt noch der Gründung. Sie könnte einen Anfang markieren.
Autor
Dr. Ralf Siepmann arbeitet als freier Journalist für Medien- und Kulturthemen in Bonn.
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