Portrait of J. S. Bach seated at the organ(Quelle: Wikipedia)
„Denen Liebhabern zur Gemüths-Ergetzung“
Die von Forkel überlieferte Anekdote, der zufolge es den russischen Gesandten am Dresdner Hof, Hermann Carl Graf Keyserlingk, in schlaflosen Nächten nach Aufheiterung verlangte und sich dieser von seinem Schützling Goldberg aus Bachs Variationen vorspielen ließ, darf als bekannt vorausgesetzt werden. Keyserlingk war ein musikalischer Kenner hohen Rangs, der auch Kontakte zum in Dresden wirkenden Wilhelm Friedemann Bach oder zu dem Lautenisten Sylvius Leopold Weiß pflegte. Ob die romantische Geschichte von der Seelenruhe bringenden Kraft der Musik nun mehr oder weniger zutrifft - in einem hat sich Forkels Bericht bestätigt: Bach habe – so Forkel - in seinem persönlichen Exemplar einige Fehler der Stichfassung verbessert. Tatsächlich fand sich 1975 in französischem Privatbesitz eine mit roter Tinte korrigierte Druckfassung, die als Bachs Handexemplar identifiziert werden konnte.
Keyserlingk hatte bereits am 1. Dezember 1736 Bachs Orgelkonzert in der Dresdner Frauenkirche besucht. Dieses fand im Rahmen von Bachs Ernennung zum königlich-polnischen und kurfürstlich-sächsischen Hofcompositeur statt. Im Jahr darauf lernte der Graf den zehnjährigen Johann Gottlieb Goldberg kennen, den er in der Folgezeit als Schüler zu Wilhelm Friedemann und auch zu Johann Sebastian Bach vermittelte. Weiterhin ist belegt, dass Bach im Spätherbst 1741 dem Grafen Keyserlingk ein Exemplar der im selben Jahr bei Balthasar Schmid in Nürnberg erschienenen Variationen überbrachte – womöglich auch im Wissen darum, dass das schwierige Werk in den Händen des jungen hochvirtuosen Goldberg gut aufgehoben ist.
Die Goldbergvariationen – obwohl nur als „Clavierübung“ und nicht als deren „Vierter Teil“ betitelt - beschließen jene enzyklopädische Editionsreihe von komplexen Kompendien tastenmusikalischer Gattungen.
Bach hatte Variationszyklen in der nicht-choralgebundenen Tastenmusik bislang fast gemieden. Eine Ausnahme ist die frühe Aria variata alla maniera Italiana a-Moll, eine weitere gewichtige Ausnahme natürlich die Passacaglia c-Moll für Orgel. In der Endphase seines Schaffens zeigt er nun jenes verstärkte Interesse an monothematischen, auch variativen Zyklen, das ihn noch zu Werken wie dem „Musikalischen Opfer“, den „Kanonische Veränderungen“ oder der „Kunst der Fuge“ anregte.
Mit der Wahl einer Basslinie als Variationsgrundlage stellte Bach sich in die lange zurückreichende Tradition des Variierens über Bassgerüste. Schon die Aria variata entsprach diesem Typus. Zu den wesensbildenden Merkmalen der vorausgehenden Clavierübungsteile gehörte bereits das Neben- und Miteinander von stilistischen Einflüssen italienischer wie auch französischer Provenienz. Indem Bach ihr ein Fundament in der Art italienischer Tanzvariationen zugrundelegt, sie melodisch und figurativ aber wie die Sarabande einer französischen Suite gestaltet, bildet die Aria eine ideale Basis für eine variative Clavierübung in der Fortsetzung der vorausgegangenen Teile.
Aria, Variationen und Aria d.c. spiegeln mit insgesamt 32 Stücken die 32 Takte der Aria selbst. Sie ist auch im Clavierbüchlein für Anna Magdalena Bach enthalten, wurde dort aber wohl kaum vor 1740 eingetragen. - Ein Impuls zur Anlage der Goldbergvariationen könnte durchaus von einem Jugendwerk Händels ausgegangen sein, der Chaconne mit 62 Variationen in G-Dur. Ihr Bass lautet genau wie die – wie Bach sich ausdrückt – 8 ersten „Fundamentaltöne“ der Aria. 1732 erschien Händels Stück bei dem Amsterdamer Verleger Witvogel, der auch mit Bach in engem geschäftlichen Kontakt stand. Doch auch andere Meister wie Henry Purcell oder Johann Caspar Ferdinand Fischer bedienten sich schon ähnlicher Chaconne-Bässe.
Die Goldbergvariationen können offensichtlich in drei Gruppen á 10 Variationen eingeteilt werden:
a) Die erste Variation wird zur Gruppe der sogenannten „Charaktervariationen“ gerechnet. Die stilisierte Polonaise zeigt einen weiteren Bezug zum Clavierbüchlein für Anna Magdalena auf. Dieses enthält eine „Polonaise doublée“ in F-Dur, die zweistimmige Variation einer vorausgehenden Polonaise. In der harmonischen Anlage weisen diese Polonaisen sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit den Goldbergvariationen auf. - Weitere Typen und Gattungen, auf die die Charaktervariationen anspielen, sind etwa dreistimmige Sinfonia, Fughetta, Fantasia oder Tanzformen wie Giga, Passepied oder Menuett. Oft wählt Bach eine imitatorische Schreibweise, die den strengen Stil der Kanons vorbereitet. So, wie die Kanons zumeist von tänzerischer Leichtigkeit beseelt sind, so sind die Charaktervariationen mit einer nicht unbedingt erwarteten komposito-rischen Strenge gefertigt. Besonders expressiv sind die beiden Sarabanden Nr. 13 (diese in G-Dur und einem italienischen Concertosatz ähnlich) sowie Nr. 25 in g-Moll, die eher dem französischen Stil zuzuordnen ist und mit ihrer Chromatik und kühnen Harmonik einen emotionalen Höhepunkt des Werks darstellt. - Einzelne Variationen bilden weitere Querverstrebungen: Die im Allabreve-Takt notierten Variationen 10 und 22 etwa repräsentieren mit den Gattungen Fuga (bzw. Fugetta) und motettisch-imitierende Fantasia im Verbund mit dem Sextkanon (Var. 18) den stile antico. - Besonders eindrucksvoll eröffnet Variation 16 in der Art einer Ouverture à la francaise die zweite Werkhälfte. - Die Unterschiede in Tempo und Affekt sind in dieser Variationengruppe am größten. - Clavier-Übung heißt in den Charaktervariationen vor allem: geschmackliche Übung.
b) Die 10 ausgesprochen virtuosen Variationen stellen ein – jedenfalls in dieser Häufung – neuartiges Element in Bachs Clavierschaffen dar. Sie erfordern zumeist das Spiel auf zwei Manualen und erinnern an den originellen, avantgardistischen Klavierstil Domenico Scarlattis. Es ist nicht belegt, daß Bach dessen Sonaten gekannt hat. Interessant ist jedoch, dass Scarlatti gerade im Jahr 1738 dreißig seiner Sonaten in London unter dem Titel Essercizi („Übungen“) herausgebracht hatte. 30 Variationen einer „Clavier-Übung“ als Bachs Antwort auf die 30 Scarlatti-Übungen - eine reizvolle Spekulation! Nennen wir diese Variationen daher einfach auch „Essercizi“. Mit einer Ausnahme erscheinen alle Essercizi vor den Kanons bzw. vor dem Quodlibet: Allein Variation 2 vor dem Unisono-Kanon ist den Charaktervariationen zuzuschlagen, dafür steigern die beiden aufeinanderfolgenden Essercizi Var. 28 mit ihren Trillern und 29 mit ihren alternierenden Akkorden den virtuosen Eindruck gegen Ende des Zyklus. Fortwährend wird in den virtuosen Essercizi Überkreuzen und Überschlagen der Hände verlangt, eine Technik, die im I. Teil der Clavier-Übung nur gelegentlich verwendet wird. Ein Essercizo ist im Kern eine gravitätische Sarabande: in Variation 26 wird der Sarabandenrhythmus – der übrigens bereits in den Takten 20 und 21 der Aria angedeutet wird - von einer Stimme in wirbelnder Geläufigkeit umrankt. Diese umspielte Sarabande grave bildet mit der vorausgehenden adagio-Sarabande eine spannungsreiche gegensätzliche Paarung. - Clavier-Übung heißt in den Essercizi vor allem: manuelle Übung.
c) Mit Variation 3 beginnt die Gruppe der alle drei Nummern auftretenden Kanons, die progressiv vom Unisono- bis zum Nonenkanon fortschreiten. Die Verwendung des Kanons bekundet höchste Kunstfertigkeit und intellektuelle Strenge; in der choralgebundenen Musik (v.a. im III. Teil der Clavierübung) symbolisiert der Kanon Glaubensfestigkeit und Treue zum göttlichen Gesetz. Die Kanons 1 bis 8 folgen dem Satzmodell „zwei kanonische Oberstimmen über einer nicht kanonischen Generalbassstimme“ und sind einmanualig zu spielen. Die beiden mittleren Kanons dieser Achtergruppe sind Spiegelkanons. Der nur zweistimmige Nonenkanon verlässt schließlich das etablierte Satzmuster und ist auf zwei Manualen auszuführen.
Statt eines Dezimenkanons erscheint als Nr. 30 das populäre Quodlibet: das Exerzitium der Satzkunst erfährt hiermit eine geradezu ironische Brechung, eine satztechnisch raffinierte Auflösung in heitere Harmonie – die perfekte Versöhnung von Kunstfertigkeit und Musikantentum. Die erste eingearbeitete Melodie („Ich bin so lang nicht bei dir gewest“) war ein beliebter Kehraus von Tanzvergnügungen; die zweite - „Kraut und Rüben“ - ein Gassenhauer, der als Melodie des Bergamasca-Tanzes eine norditalienische Entsprechung hatte. Diese Melodie wurde schon einmal in einem kontrapunktischen Meisterstück verwendet, das Bach nachweislich kannte, studierte und sicherlich auch bewunderte: in Girolamo Frescobaldis Bergamasca-Capriccio aus den „Fiori musicali“. Beide Melodien verwendet Bach 1742 noch einmal in der Bauernkantate.
Als hätte er die geglückte Vereinigung von Variation und Kanon nicht schon genügend zelebriert, lieferte Bach übrigens auf einer freigebliebenen Seite seines Handexemplars 14 Rätselkanons über die „ersteren acht Fundamentaltöne“ der Aria. 12 davon waren bis zur Entdeckung des Handexemplars noch unbekannt. Zu den zwei bis dato bekannten Kanons der Sammlung gehörte auch der bereits vom Bach-Portrait Elias Haußmanns bekannte „Canon triplex“. - Clavier-Übung heißt in den Kanon-Variationen und den Rätselkanons vor allem: geistige Übung.
Zwei Polaritäten scheinen die strukturellen Eckpfeiler der Goldbergvariationen zu bilden, und aus ihnen mag man eine grundlegende Aussage des Werks ableiten: In den beiden sogenannten Signaturvariationen, also der ersten und der letzten, spielt Bach ganz offensichtlich auf den Titel des königlich-polnischen und kurfürstlich-sächsischen Hof-Compositeurs an. Die beiden Variationen bilden gewissermaßen den weltlichen, gesellschaftlichen Rahmen ab, in dem sich Bach in Dresden bewegte, und sie scheinen dem Titel, bei dessen Verleihung Graf Keyserlingk eine maßgebliche Rolle gespielt hatte, eine wörtliche musikalische Entsprechung zu geben: die stilisierte Polonaise als Einarbeitung des am Dresdner Hof beliebten Tanzes und – in Ermangelung eines sächsischen Pendants, einer „Saxonaise“ - das humoristische Quodlibet, mit dem Bach zudem seine eigene familiäre Verwurzelung im thüringisch-sächsischen Raum ins Spiel bringt.
Davon ausgehend möchte ich die Annahme formulieren, dass uns in der Mitte des Zyklus eine weitere Signatur Bachs begegnet, und zwar geradezu im Sinne eines Bekenntnisses: Von Variation 15 lässt sich nun aufgrund der Quintkanon-Technik sowie der seufzerhaften Motivik durchaus eine Parallele zu „O Lamm Gottes, unschuldig“ ziehen, der Choralbearbeitung aus dem Orgelbüchlein. Auch das „Qui tollis“ der F-Dur-Messe verwendet eine ähnliche Seufzer-Motivik. Peter Williams wehrt sich zwar gegen die Zuschreibung der mit Bögen versehenen Sechzehntelpaare im Orgelchoral zu einer Symbolik des „Tragens der Sündenlast“: Er spricht einfach von einem „nützlichen Motiv“ und verweist gerade auf die 15. Goldberg-Variation, bei der dieses Motiv ja ohne textliche Assoziation zur Verwendung käme. Dieser Argumentation ist insofern zuzustimmen, als ein Motiv oder eine musikalisch-rhetorische Figur zunächst einmal rein musikalische Phänomene sind, in unterschiedlichem Kontext verwendbar und ohne festlegbare Zuordnung zu religiösen oder sonstigen Inhalten. Aber: Bei einem Werk Bachs, das ganz offensichtlich eine Fülle beziehungsreicher Anspielungen aufweist, dürfte es erlaubt sein, einen bewußten Einsatz musikalischer Symbolik auch im Sinn eines theologischen Bekenntnisses zumindest für möglich zu halten – auch und gerade in einer weltlichen, dabei aber sehr persönlichen Komposition.
Hält man an der zentralen Position des Zyklus eine solche Symbolik für zulässig, so könnte man zu der These gelangen, Bach habe hier analog zu den weltlichen Signaturvariationen eine geistliche Signatur gesetzt: die erste Werkhälfte schlösse mit einem Bekenntnis zum leidenden und sterbenden Christus, die zweite Hälfte – man denke an die emporschießende tirata - begänne mit dem Auferstehungsruf. In allen vier Teilen der Clavier-Übung wird die zweite Hälfte mit einer Ouvertüre begonnen – dem musikalischen Äquivalent zum „inneren Exordium“ - einem Topos, der den rhetorischen Neuanfang in der Mitte des Vortrags bezeichnet. Im Vierten Teil der Clavierübung ist der dramaturgische Effekt des inneren Exordiums jedoch weit stärker ausgeprägt als in den vorausgehenden Teilen, was es zumindest erleichtert, hier das Ostergeschehen musikalisch symbolisiert zu sehen. Spekulativ möchte ich zum Schluss dem Komponisten die folgenden Worte in den Mund legen: Im Innersten meines Werks und meiner Person bekenne ich, Johann Sebastian Bach, königlich-polnischer und kurfürstlich-sächsischer Hofkompositeur, musikalischer Gelehrter und virtuoser Tastenspieler, mich zum Glauben an den Gekreuzigten und an seine Auferstehung. Wenn wir diese Deutung zulassen, dann enthielten die Goldberg-Variationen sogar noch mehr als anspielungsreiche Unterhaltung, stilisierte höfische Tanzmusik, tönende Gelehrsamkeit und die Sondierung klavieristischer Techniken: sie enthielten ein Bekenntnis des Autors zu den religiösen Grundfesten seines Denkens und seiner Musik.
Text von Christian Schmitt-Engelstadt, Worms, www.konzert-organist.de